„Runen“ aus Esmantés Jugend

„Runen“ aus Esmantés Jugend

„Runen“ aus Esmantés Jugend

Taucht ein in Esmantés Jugend auf der Silbernen Burg. Ihr kennt Esmanté nicht, die lebenslustige aber auch gefürchtete Schwertmeisterin aus den Tiranorg-Romanen?


»Meister Brack?«
Obwohl die Glöckchen an der Tür so laut geklingelt hatten, dass ein Toter wieder aufgestanden wäre, feilte der kräftige Elf ungerührt mit dem Rücken zu mir an dem Werkstück weiter. Vorsichtig ging ich im Halbdunklen der Werkstatt den schmalen Gang entlang, der sich standhaft gegen allerlei alte Schwerter, verbeulte zerkratzte Schilder und scharte Äxte wehrte.
»Wer will das wissen?«, brummte er, als ich nur noch drei Schritt hinter ihm stand.
»Ich – also ich …«, verdammt, ich stotterte herum wie die größte Idiotin nördlich der Heerstraße. Dabei war ich schon fast zehn Jahre alt.
»Nun? Kannst du nicht sprechen?«
Ich streckte mich: »Mutter sagt, Ihr seid der beste Schwertschmied in ganz Cérnowia.«
»Wer hat den unverzeihlichen Fehler gemacht, dich auf die Welt zu bringen, nur um ehrbare Bürger von der Arbeit abzuhalten?«, er feilte in Seelenruhe weiter, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Puh, es war noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Idena hatte mich ja gewarnt. Aber sei´s drum, die Sache war einfach zu wichtig.
»Also – ich heiße Esmanté – und ich wollte fragen, ob Ihr bei dem hier die Scharte ausbessern könnt«, betont lässig legte ich Mutters Dolch auf die überfüllte Werkbank.
»So, so Esmanté und wie weiter?«, er drehte sich nun doch um, aber nur, um den Dolch zu begutachten. Er nahm ihn in die Hand, hielt die eingravierte Inschrift ins Licht der Laterne und dann richteten sich seine Augen auf mich. Sein Blick sprach Bände. Natürlich wusste ich, dass ich nicht besonders gut aussah. Die Sache gestern hatte Spuren hinterlassen. Nicht nur auf dem Dolch, sondern auch auf meiner Kleidung und ja, im Gesicht, das geschwollene Auge brannte höllisch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich seinen Blick aus harten blau-grauen Augen stumm zurückgab, glaubte ich fast, ein Schmunzeln zu sehen. Jedenfalls hob sich der Schnurrbart mit den langen Enden, denn er nahm die geschwungene Pfeife aus dem Mund.
»So, so die Familie d´Elestre«
Ich zuckte zusammen, woher wusste er das?
»Also Mädchen – es gibt genau zwei Möglichkeiten, wie du in den Besitz der Klinge gekommen bist. Entweder du bist Esmanté d´Elestre, der Schrecken aller Erzieherinnen hier auf der Burg und die Esmanté, die sich gestern Nacht eine Prügelei mit drei Jungs geliefert hat – oder du hast diesen wunderschönen Scheibendolch aus gehämmertem Zwergenstahl gestohlen. Weshalb ich natürlich sofort die Wache rufen müsste.«
Er stemmte die trotz seines Alters muskulösen Arme in die Seite, aus der Pfeife wölkte grauer Rauch hervor.
Was blieb mir anders übrig?
»Ja, gut, ich bin Esmanté d´Elestre, wenn Ihr es unbedingt wissen müsst. Aber eines sag ich Euch: Ich stehle nicht! Und die Sache mit den Erzieherinnen geht nur mich allein was an!«, ich stampfte mit dem Fuß auf, wobei beinahe ein Stapel Schilde umgefallen wäre und mir einen mehr als strengen Blick des Meisters eintrug.
»Könnt ihr die Scharte ausbessern? Wenn Mutter zurückkommt und sieht, was mit dem Dolch passiert ist …«, hilflos hob ich die Schultern und verzog gleichzeitig das Gesicht. Mann, der eine Junge hatte wirklich eine harte Rechte.
»Hm ja, Eillis ist bei dem Feldzug dabei?«, die blau-grauen Augen unter den buschigen Augenbrauen bohrten sich direkt in mein Herz. Verdammt, warum fühlte ich mich unter diesem Blick wie eine Fünfjährige?
»Ich hab auch genug Gold«, ich zählte zwei Goldtaler auf den Tresen, mein ganzer derzeitiger Besitz.
»Wie kommst du zu dem Gold?«, die Narbe quer über das Kinn deutete auf die Taler.
»Mutter hat´s mir dagelassen. Für alle Fälle.«
»Hm«, er sog an der Pfeife, dass der Tabak nur so glühte. Dann drehte er sich um, griff nach einem Brett und platzierte es vor mich. Fleischscheiben und frisches Brot dufteten köstlich.
»Greif zu!«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Vor allem als die breite Hand auch noch einen Becher auf die Theke stellte, aus dem es verführerisch nach frischem Apfelsaft roch.
Eine ganze Weile war nur mein Schmatzen zu hören und gleichmäßiges Feilen. Denn Meister Brack hatte sich erneut seinem Werkstück zugewandt. Immer noch lag der Scheibendolch auf der Werkbank.
»Wie lange bist du schon allein?«, wollte er schließlich wissen.
»Bin nich` allein«, quetschte ich zwischen zwei Bissen heraus. »Mira passt auf mich auf.«
»Ausgerechnet«, konterte er und trank von einem großen Humpen, den ein zinnerner Deckel schützte. »Die eignet sich bestimmt hervorragend als Kindsmagd.«
»Das stimmt nicht«, protestierte ich und schleckte die Butter von den Fingern. »Seit Mira wieder gesund ist, schleppt sie einen Kerl nach dem anderen an, dann schlaf ich eben bei Idena«, versuchte ich ein Grinsen, das aber seine Wirkung verfehlte.
»Soweit ich weiß, dauert der Feldzug bereits drei Monate«, wieder traf mich ein durchdringender Blick.
»Kann schon sein«, Zeitangaben waren nicht mein Ding. Ich wusste nur, dass ich bereits ziemlich lange alleine war und einsam. Aber das würde ich ihm natürlich auf keinen Fall auf die Nase binden.
»Ist das die einzige Verletzung?«, er deutete auf das Auge.
»Pah, ist nicht der Rede wert«, wehrte ich ab. »Aber wenn Mutter heimkommt und der Dolch sieht so aus … Puh, dann schaut das andere Auge auch so aus«
Zum ersten Mal erhellte ein Lächeln das ernste Gesicht: »Kann ich mir vorstellen, bei Waffen versteht Eillis keinen Spaß.«
Der Rauch, den er in die Luft blies roch nach Sandelholz.
»Gut. Hier …«, er schrieb etwas auf eine kleine Tafel. »Bring das zu den Heilern. Dann komm mit der Arznei zurück.«
»Und Ihr bessert die Scharte aus?«, vergewisserte ich mich. Wenn ich schon quer durch die halbe Stadt laufen sollte, nebenbei bemerkt die Verabredung mit Jorg verpasste, musste ich sichergehen, dass es sich auch lohnte.
»Ja, wenn du mir alles bringst, was dort steht, bessere ich die Scharte aus.«
Täuschte ich mich, oder verzog sich der breite Schnurrbart zu einem Grinsen?
Aber es half nichts, wenn ich wollte, dass mein Leben noch einige Zeit länger währte, musste der Dolch geschärft werden und Meister Brack war der Beste dafür.
Also machte ich mich auf den Weg und mied die Rosen-, Herde- und Pferdegasse, um den Mitgliedern der Flohbande auszuweichen. Von Weitem grüßte das schmiedeeiserne Tor, das das Haus der Heiler bezeichnete. Zum Glück lief mir am Eingang eine Helferin über den Weg. Wie alle Krieger war auch Mutter abergläubisch und betrat das Haus der Heiler nur sehr ungern. Weshalb auch ich mich hier nicht gut auskannte.
»Ah, verzeih, kannst du mir helfen?«
Die Dienerin hielt an, ein abschätziger Blick glitt über mich, meine dreckige Kleidung und blieb an der Tafel hängen.
»Hier, Meister Brack braucht die Dinge dringend«, ich hielt ihr die Tafel hin.
Hellblaue Augen folgten den Runen. Plötzlich lachte sie laut auf und meinte: »Soll das ein Scherz sein? Steckt etwa Mert von der Wache dahinter?«
»Äh, nein, ich meine, ich versteh nicht, was du hast«, stotterte ich, »Meister Brack schickt mich, und er sagte, er braucht alle Dinge, die da stehen, und zwar schnell.«
»Hm«, einen Moment starrte die Dienerin auf die Tafel, dann wandte sie sich an eine Heilerin, die durch das Tor kam.
»Warte hier«, befahl sie mir.
Auch die Heilerin lachte, als sie den Text gelesen hatte.
»Nun, ich wusste nicht, dass Brack einen Lehrling genommen hätte, aber sei´s drum. Weißt du nicht, was da steht, Kind?«, wollte die Heilerin wissen.
Mein Herz machte einen Sprung. Am liebsten hätte ich Reißaus genommen, hier und jetzt. Was bei allen Göttern hatte der Meister aufgeschrieben?
Stumm schüttelte ich den Kopf.
»Nun, er bat um ein »Ichbindumm« und ein Fläschchen »Meinkopfistleer«. Ja, das Dritte ist wohl ernst gemeint, wenn ich mir dein Auge ansehe«, schlanke Finger wiesen auf mein Gesicht.
Ich fühlte, wie Röte meinen Hals hinaufstieg.
»Du kannst nicht lesen«, sagte sie mir auf den Kopf zu.
»Das geht niemanden was an«, murrte ich.
»Tja, es erleichtert das Leben, würde ich sagen«, lächelte die Heilerin und zog mich mit sich.
»Wir sehen uns dein Auge an und so wie du gehst, tut dir das Bein auch weh. Weißt du, gestern kamen außerdem zwei Jungs vorbei. Der eine hatte einen sehr hässlichen, tiefen Schnitt am Arm, und der Zweite blutete aus einer Wunde an der Schläfe. Du weißt nicht zufällig etwas darüber?«
Jetzt war es besser, sich aufs Schweigen zu verlegen. Außerdem war ich völlig machtlos. Sie zerrte mich mit sich, drückte mich auf einen unbequemen Stuhl, damit sie mein Gesicht mit einer widerlich stinkenden Tinktur reinigen konnte. Ja, auch mein Bein wurde eingebunden und erst dann, als sie auch noch eine kühlende Salbe auf mein Auge gestrichen hatte, war ich entlassen. Die ganze Zeit musste ich mich sehr beherrschen, um nicht vor Wut zu schreien. Dieser verfluchte, dreimal vermaledeite Meister Brack. Wenn es nicht um den Scheibendolch von Mutter gegangen wäre, ein altes Erbstück, an dem sie so sehr hing, hätte ich den Laden des Meisters sicher nicht noch einmal betreten. Aber was blieb mir übrig? Am nächsten Morgen, Jorg hatte mich mit frischen Hörnchen versorgt, stand ich unschlüssig vor dem Eingang.
Schließlich stieß ich die Tür auf und fand den Elf genauso vor, wie am Abend zuvor.
»Warum habt Ihr das gemacht?«, zornig baute ich mich vor ihm auf.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, er dreht sich nicht einmal um.
»Ihr hattet euren Spaß! Was ist nun, wo ist der Dolch?«, meine Faust sauste auf die Werkbank und die Werkzeuge schepperten. So schnell, wie ich es ihm nie zugetraut hätte, wirbelte er herum, packte mich am Wams, hob mich hoch und presste mich gegen die Wand. Seine Augen waren nur noch Schlitze, sein Atem ging schwer.
»In diesem Haus wirst du nie, unter keinen Umständen, laut oder schlägst auf den Tisch. Ist das klar?«, knurrte er.
Mir blieb nur zu nicken. Im Stillen war ich fast schon überzeugt, hier und jetzt zu sterben. Mist! Ich hatte den alten Mann unterschätzt.
»Gut«, er setzte mich fast sanft ab und wies auf eine freigeräumte Fläche.
»Hier. Ich will, dass du Lesen und Schreiben lernst. Das Gold kannst du behalten.«
Tatsächlich lagen neben einer alten Tafel, Kreiden und einem Lappen, die beiden Goldstücke.
»Soll das heißen, ich muss Lesen und Schreiben lernen, nur damit Ihr den dummen Dolch ausbessert?«, am liebsten hätte ich wieder auf den Tresen gehauen, doch im letzten Moment besann ich mich eines besseren. »Ich hab noch andere Dinge zu erledigen, als hier blöd rumzusitzen und auf einer Tafel zu kritzeln wie die mickrigen Schreiberlinge.«
»Wie war es denn gestern, ausgelacht zu werden, weil man nicht lesen kann?«, hielt er ruhig dagegen.
»Ha! Das! Wenn ich gewollt hätte, hätte ich es sowieso lesen können, es war nur, es war, ich hatte einfach keine Zeit dazu.«
»Ah, ha und was steht dann da?«, mit flinken Fingern malte er Runen auf die Tafel.
»Ich will Kriegerin werden, genau wie Mutter, es ist mir scheißegal, was da steht. Die anderen sagen auch, ich bin gut. Die drei Schwachköpfe hab ich ohne Probleme erledigt. Obwohl sie alle älter sind als ich. Ich schaff das! Aber die Zeichen, für mich sehen sie aus, als hätten Ratten da hingepinkelt – es interessiert mich nicht«, harscher als beabsichtigt, schob ich die Tafel weg, sie schlitterte über die Werkbank. Erschrocken keuchte ich auf, sprang vor und fing sie gerade noch rechtzeitig auf.
»Deine Reflexe sind wirklich gut. Ja, du hast Kraft und du bist mutig. Aber willst du dein Leben lang von anderen abhängig sein, die dir vorlesen, was auf den Schildern steht oder wie viel Sold du ausbezahlt bekommst?«, hielt er dagegen.
»Ihr meint es ernst, oder?«, niedergeschlagen kletterte ich auf den hohen Stuhl.
»Ich mache nur ab und zu Scherze«, der Schnurrbart hob sich. »Heilerin Quart war gestern noch hier und hat sich nach meinem neuen Lehrling erkundigt. Sie meinte, die Wunde am Knie würde sicher noch schmerzen.«
»Ihr habt was mit der?«
»Nein, dieses Glück wurde mir nicht zuteil. Sie ist nur eine Heilerin mit Leib und Seele und war überdies auf dem Weg zu einem der Jungs. Die Wunde am Arm will nicht heilen.«
»Warum macht Ihr das?«, vergeblich hielt ich nach dem Brett mit dem Fleisch Ausschau.
Als könnte er Gedanken lesen, ging Brack weiter in den dunklen Gang hinein. Kam wenig später zurück, mit dem Brett in der Hand, auf dem ein ansehnliches Stück Fleisch sich den Platz mit hellem Brot teilte. In der anderen Hand brachte er eine Karaffe mit Saft.
»Wo hast du heute Nacht geschlafen?«, wollte er wissen, während er mit einem langen Messer hauchdünne Scheiben schnitt.
»Warum?«
Ein Blick belehrte mich, seine Frage zu beantworten.
»Bei Jorg«
»Dem Sohn des Bäckers?«
»Ah, kennt Ihr die ganze Stadt?«, brauste ich auf, und sicherte mir gleich zwei Scheiben Fleisch.
»Eher die halbe Stadt, würde ich sagen«, er selbst bediente sich ebenfalls großzügig. »Also?«
»Pff, nicht direkt bei Jorg. Eher am Dachboden. Da kommt man gut rein, und ist relativ sicher vor seinem Vater.«
»Was ist mit seinem Vater?«, Brack stellte mir den Becher hin.
»Ach, er ist eigentlich recht nett, bei Mädchen zu nett, wenn Ihr versteht.«
Brack schüttelte den Kopf: »Versteh ich nicht.«
»Wir nennen es »flinke Finger«. Weil, du kannst alles haben von ihm, aber du musst schnell sein«, ich zuckte mit den Schultern.
Alarmiert hob er den Kopf: »Ist dir das auch schon passiert?«
»Nee, ich bin schnell – aber andere Mädchen hatten nicht so viel Glück. Verdammter Pisser und er schlägt Jorg. Deshalb …«
»Darum ging es also«, stellte Brack fest.
»Aye, darum ging es. Er bezahlt Jungs, damit sie Mädchen, die auf der Straße leben, zu ihm bringen. Und eine von ihnen kenne ich zufällig. Lorai heißt sie. Die Feiglinge waren zu dritt! Zu dritt, um ein wehrloses Mädchen zu entführen! Das konnte ich nicht zulassen, versteht Ihr?«, vor Ärger hätte ich beinahe wieder auf den Tisch geschlagen.
Brack lehnte sich zurück und sah mich das erste Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, hochachtungsvoll an. Er schwieg eine Zeit lang, dann nickte er, wie zu sich selbst.
»Nein, das konntest du wohl nicht zulassen. Wie geht´s deiner Freundin?«
»Gut. Kennt Ihr das Haus der Gütigen Göttin? Dort ist sie jetzt.«
»Das Haus der Gütigen Göttin«, nachdenklich strich er über den fast grauen Bart. »Du wirst mir wohl nicht verraten, woher du ausgerechnet dieses Etablissement kennst, oder?«
Statt einer Antwort schenkte ich Apfelsaft in den Becher. Es war besser, einige Sachen für sich zu behalten. Nicht auszudenken, wenn Mutter dahinter käme, dass ich im Austausch gegen ein paar Kupfertaler schon so manchen Botengang für die Mädchen dort erledigt hatte.
Er aß sein Brot fertig, dann zog er, sehr zu meinem Leidwesen, die Tafel zu sich her und schrieb darauf schöne Runen. Allerdings nur auf den oberen Teil der vermaledeiten Tafel.
»Was steht da?«
Unter seinem unbeugsamen Blick blieb mir nichts anderes übrig, als zu versuchen das zu entziffern, was er geschrieben hatte. Die eine Rune kannte ich doch, Lady McLoyd hatte sie mir gezeigt. War das nicht der Anfangsbuchstabe meines Namens?
»Das ist ein E«, triumphierend sah ich zu ihm hoch.
»Hm. Immerhin ein Anfang«, knurrte er. »Wenn du das ganze Alphabet kannst, fange ich an, den Dolch zu glätten.«
»Ah, verdammte Scheiße, das sind dreißig Runen«, protestierte ich.
»Keine Flüche von einem Mädchen, das noch grün hinter den Ohren ist, hast du mich verstanden?«
»Aye«
»Gut. Das hier ist dein Name, du unwissendes Ding. Du wirst es jetzt schreiben, denn du gibst mir sicher recht, dass man wenigstens seinen eigenen Namen schreiben können sollte, oder?«
»Kann ich ja, hm, so einigermaßen, aber es hat verflucht noch mal nie so ausgesehen, wie das von Lady McLoyd«, wie gerne wäre ich jetzt wieder abgehauen, einfach weggelaufen, wie sonst immer.
»Ich erzähle dir die Geschichte von Utgart dem Löwen, die wahre Geschichte, versteht sich, wenn du deinen Namen richtig schreiben kannst«, bot er an.
Und das brachte mich ins Grübeln. Denn vor allem anderen liebte ich Geschichten über Schlachten, Helden, berühmte Schwerter und treue Kameraden.
»Puh, meinetwegen«, brummte ich und versuchte mir nicht anzumerken zu lassen, wie sehr mich der Teilsieg freute. Schnaufend machte ich mich an die Arbeit. Puh, warum wog ein Stück Kreide mehr als der Dolch von Mutter? Erst rutschte die Tafel immer wieder weg, dann verwischte ich mit dem Ärmel die vorhergehenden Runen, sodass ich wieder von vorne anfangen musste.
Keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich, jedenfalls meiner Meinung nach, ein ganz akzeptables Ergebnis vorzuweisen.
»Hm, sieht aus, als hätte ein Schaf hingeschissen«, murrte Brack. »Aber für´s erste Mal geht´s.«
Ich atmete auf, als er die Tafel beiseitelegte, die Pfeife neu stopfte und sich bequemer hinsetzte.
»Also dann pass auf, du Heimsuchung unbescholtener Bürger. Es war im Jahr zehn der Herrschaft des ehrenwerten Königs Ailt, als eine Horde Aufständischer loszogen …«
Er war ein herrlicher Erzähler und angeblich bei jeder Schlacht selbst dabei gewesen. Das machte die Schufterei mit der Tafel und der Kreide mehr als wett.
Als ich am nächsten Tag wieder kam, sah er nicht einmal auf.
»Hm. Du schon wieder«, brummte er und aus der Pfeife entwich ein Wölkchen. »Du bist wie eine Laus im Pelzumhang eines reichen Händlers.«
»Danke auch«, gab ich zurück und musterte die Schwertscheide, die auf dem Tresen lag. »Ihr wisst genau, dass ich den Dolch brauche. Sie wird bald zurück sein und dann kann mir nicht einmal die große Göttin Scathach helfen.«
»Ich soll also Mitleid haben«, er beendete die Arbeit und drehte sich zu mir. Leider war weit und breit kein Brett mit Essen zu sehen.
»Hier«, er schob mir die Tafel zu auf der, ich schwöre es, mindestens drei Zeilen standen, und zwar so eng, dass unten ebenfalls drei leere Zeilen Platz fanden.
»Das ist nicht fair!«, ich sprang vom Stuhl.
»Das Leben ist nie fair«, hielt er dagegen. »Du schreibst das, und zwar leserlicher als gestern, und bekommst die Geschichte von Anmai, der Raubkatze, erzählt. Ich selbst war mit ihr im Kampf«, ein durchdringender Blick stellte klar, dass ich diese Tatsache auch genügend zu würdigen wusste.
»Wenn du allerdings keine Zeit hast, bitte, der Dolch liegt dort oben«, die Pfeife deutete auf das oberste Brett im Regal.
»Bei allen Göttern, Ihr seid ein Leuteschinder«, brummelte ich und schnappte mir die Kreide. Sie lag heute noch schwerer in meiner Hand. Außerdem schwitzte ich, draußen herrschte eine Bruthitze und ich durfte hier sitzen, wie diese völlig verblödeten Hofdamen und diese saudumme Kreide über die Tafel bewegen. Aber Mira hatte einmal von Anmai erzählt, wenn auch nur wenig, und was sie berichtet hatte, war einfach nur fantastisch gewesen. Grund genug also, um die drei Zeilen abzuschreiben.
Ich war gerade fertig, hatte es sogar geschafft, einigermaßen gerade zu schreiben, da betrat ein Mädchen den Raum, mit einem Brett und Kuchen, der verführerisch duftete. Vor Überraschung hätte ich beinahe die Tafel fallen lassen, als ich sah, wer die Brotzeit brachte!
»Lorai kennst du ja bereits«, grummelte Meister Brack, ohne mit der Arbeit aufzuhören. »Sie arbeitet ab heute bei mir. Die Hauswirtschafterin braucht Unterstützung.«
Stürmisch umarmte ich die Freundin. Lorai kicherte und wollte mich fast nicht mehr loslassen.
»Ich bin so froh, hier zu sein«, flüsterte sie.
Gemeinsam ließen wir uns die Brotzeit schmecken und lauschten der Geschichte.
So verbrachte ich von da ab jeden Nachmittag, den ich ausbüchsen konnte, bei Meister Brack und lernte Lesen und Schreiben.


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