„Mittwinterstory“ aus Esmantés Jugend

„Mittwinterstory“ aus Esmantés Jugend

Ich atmete tief durch, dann stemmte ich mich mit der rechten Schulter gegen die Schwingtüre, umfasste die Griffe des Zubers fester und betete zur Großen Mutter, dass nicht gleichzeitig jemand aus der Küche der Silbernen Burg hinauswollte und mich umrannte. Der glitschige, stinkende Inhalt der Wanne kam ins Rutschen, als ich mich noch einmal gegen die abgegriffene Holztür stemmte. Das hätte mir gerade noch gefehlt! Dass vor der gesamten Dienerschaft die gut zwanzig ausgenommenen Forellen auf dem Boden platschten. Endlich gab die verflixte Tür nach, aber nur, weil einer der Knechte über meinen Kopf hinweg dagegen drückte.

„Sonst stehen wir morgen früh noch hier“, brummte er. „Hab noch was anderes zu tun.“

Er schubste mich vorwärts, dann drängte er sich an mir vorbei.

Ich murmelte etwas in der Art, was für ein saublöder Idiot er sei. Zum Glück war es so laut um mich herum, dass mich niemand hörte. Denn noch mehr Strafe konnte ich beileibe nicht gebrauchen.

„Ah, da ist ja unsere hochwohlgeborene Lady“, dröhnte es aus dem hinteren Eck.

Ich schwöre bei allen Göttern, die ich kenne, dass diese Heimsuchung einer Köchin sicher noch auf dem riesigen Hintern Augen haben musste. Ihr entging rein gar nichts. „Dachte schon, sie kommt nicht mehr wieder. Dass sie nicht mit uns niederen Leuten Mittwinter feiern will, sondern ihren knochigen Arsch auf die herrschaftliche Tafel hievt. Sie ist doch eine d`Elestre“, das Lachen erschütterte den dicksten Körper, den ich jemals in meinem neunjährigen Leben gesehen hatte. Sie trug nicht eines dieser üblichen Kleider, vorne geschnürt, sondern einen einfachen Leinenüberwurf, den ein dunkler Gürtel hielt, an dem allerlei Gerätschaften und Beutel hingen. Wahrscheinlich gab es in ganz Tiranorg nicht genug Kordeln, um das Mieder zu schnüren, dachte ich. Aber wohlgemerkt, dachte ich es nur. Es auszusprechen wäre reiner Selbstmord gewesen.

„Stell sie dort hin“, wies mich eine Magd an, die nicht in die allgemeine Heiterkeit eingestimmt hatte. Sie beugte sich über den Zuber und nickte mir anerkennend zu: „Wirklich nicht schlecht, Kleine. Mit dem Messer kannst du auf jeden Fall umgehen“, ihre Augen wanderten zu dem grimmig dreinblickenden Elfen, der es sich auf der Bank in der Nähe des Feuers bequem gemacht hatte. Die rechte Hand war bandagiert, aber mit der Linken war er trotzdem in der Lage, einen Humpen Bier nach dem anderen zu leeren und sich den Bauch vollzuschlagen. Im Gegensatz zu mir. Seit dem Morgen schuftete ich jetzt hier, ohne Pause, ohne etwas zu essen.

Ja, zugegeben, ich war wieder abgehauen, denn Lady McLoyds Unterricht war gähnend langweilig. Obwohl ich eigentlich die Burg gar nicht hätte verlassen dürfen, denn Mutter hatte vor einiger Zeit den Auftrag bekommen, einen reichen Kaufmann aus dem Süden, der der Königin seine Aufwartung gemacht hatte, sicher nach Bogha Derg zu bringen. Sie hatte nicht ablehnen können und mir versprochen, dass sie noch vor Mittwinter zurück sein wollte. Leider war Mutter trotz ihrer Abneigung gegenüber den Edelleuten auf der Burg noch vor ihrer Abreise höchstpersönlich zu Lady McLoyd gegangen und hatte sie gebeten, auf mich aufzupassen. Pah! Als ob ich so etwas nötig gehabt hätte! Und mal ehrlich: Wer sitzt freiwillig in einer muffigen Kammer, mit lauter halbblöden Mädchen, die außer Sticken und Schwatzen nichts anderes konnten? Wenn ich doch genau wusste, dass Jorg draußen auf mich wartete, um Reifentreiben zu spielen oder die Mitglieder der „Stinkenden Ratten“ zu ärgern!

Tja, blöd nur, dass ich einem der Offiziere der Stadtgarde und engsten Vertrauten von Lady McLoyd in die Arme gelaufen war, Lord Kimp. Und nein, ich bereute es kein bisschen, dass seine Hand durch Zufall Bekanntschaft mit dem Scheibendolch von Mutter gemacht hatte. Er hatte mich windelweich geprügelt, weil wegen mir die gute Lady nicht zu dem Stelldichein gekommen war. Wofür ich ehrlich nichts konnte.

Zur Strafe und weil ich ja angeblich mit dem Messer so flink war, hatte mich die Köchin, die einen Narren an Lord Kimp gefressen hatte, dazu verdonnert, Fische auszunehmen, viele Fische, und anderes Kleingetier. Wer sollte das eigentlich alles essen? Nach einem schnellen Blick in die Runde bemerkte ich, dass jeder Bedienstete beschäftigt war. Flink griff ich deshalb nach einem Brötchen, das lauwarm neben vielen anderen Köstlichkeiten auf goldfarbenen Tellern angerichtet wurde. Doch eine raue Hand war schneller, schlug mir auf die Finger und steckte das Gebäck anschließend selbst in den Mund.

„Du bist eh zu dick“, grinste einer der Knechte, und ging pfeifend durch die Schwingtüre.

Es musste mittlerweile Nachmittag sein, denn Diener entzündeten Kerzen, obwohl mehrere Herdfeuer den Raum erhellten und aufheizten.

„Sieh dir das an! Soll ich der Königin ein Stück Brot vorsetzen an Mittwinter? Nur weil du zu dumm bist, um auf die Soße aufzupassen?“, brüllte die Köchin über den allgemeinen Lärm hinweg. Die Magd stand wie ein Häuflein Elend vor ihr und schluchzte. Ein Topf stand schräg auf dem Herd, von dem seitlich gelbe Soße herausfloss.

Das war meine Chance! Ich drehte mich um und machte mich klein. Mein Aufpasser orderte gerade einen neuen Humpen Bier und war ebenfalls abgelenkt. Ich kam an einem Tablett vorbei, das kunstvoll mit vielen Scheiben Schinken bedeckt war. Flugs fanden meine Finger ein besonders knuspriges Stück, das sofort in die Tasche meines Beutels fiel, den ich immer am Gürtel hängen hatte. Zwei Scheiben Brot folgten und Käse. Dann schlich ich zur Tür. Man durfte nicht gierig werden, lautete eine der Grundregeln der Straße. Als ich hochsah, bemerkte ich die Magd, die sich um die Forellen kümmerte und sich suchend umsah. Wahrscheinlich warteten weitere Fische darauf, ausgenommen zu werden. Aber dazu mussten sie sich jemand anderen suchen. Ich hatte genug.

Diener in Livree begannen bereits, die ersten Platten aufzutragen, und das gab mir die Gelegenheit, mich zwischen ihnen zu verstecken und so ungesehen durch die Schwingtüre zu schlüpfen. Nicht zu früh! Trotz des Lärms hörte ich plötzlich Lord Kimp, der laut meinen Namen rief.

„Lauf!“, hörte ich über mir.

Ich musste nicht hochsehen, um zu wissen, wer mir half. Jorg. Mein bester Freund. Deshalb verschwendete ich keinen Augenblick, sondern flitzte zwischen den Dienern hindurch, bog ab und sauste den Gang entlang. Hier war es knifflig, denn wenn einer der Wachen den Lord hörte, würden sie mich mit Sicherheit aufhalten.

„Hier sind die Torten, die ich liefern soll“, hörte ich die Stimme Jorgs. „Nur die allerbeste Ware für die genialste Köchin in ganz Tiranorg.“

Die Köchin kicherte wie eine der Hofdamen.

Ah, Jorg war der Beste!

Die Nornen waren mir wohlgesonnen. Im Wachzimmer sprachen die Soldaten bereits eifrig dem Bier zu, wie üblich bei Mittwinter. Ich huschte vorbei, zog die schwere Tür zum mittleren Burghof nur einen Spalt weit auf und quetschte mich hindurch. Und dann rannte ich. Obwohl meine Lungen brannten und ich glaubte, im nächsten Augenblick tot umzufallen, hielt ich erst an, als ich das untere Burgtor passiert hatte und in die Färbergasse einbog.

Auch hier herrschte rege Geschäftigkeit. Die Bürger von Grianan Aileach bereiteten sich alle auf das höchste Fest im Jahr vor, oder feierten bereits in den unzähligen Tavernen oder Gasthäusern. Langsam kam ich wieder zu Atem und schlenderte unauffällig weiter. Nicht umsehen! Das hatte mir Londo immer wieder eingeschärft. Nur wer etwas zu verbergen hatte, drehte sich ständig um.

Endlich tauchte vor mir das Haus des Bäckers auf, Jorgs Zuhause. Aber ich betrat es nicht durch die Vordertür. Nein, ich ging weiter, bog in die Gasse zwischen den beiden Häusern ein und kletterte die schmale Leiter hinauf, die Jorg extra zu diesem Zweck hier aufgestellt hatte. Meine Finger begannen klamm zu werden, denn im Gegensatz zur Küche war es hier draußen eisig kalt. Schon erreichte ich das Dach, lief geschmeidig wie eine Katze über den First und gelangte über ein loses Brett in unseren Unterschlupf. Hoffentlich hatte er nicht noch Ärger bekommen, dachte ich nicht zum ersten Mal. Wie immer hatte er alles schön hergerichtet. Ein Feuerstein lag bereit und ich entzündete die Kerze. Der Strohsack, auf dem ich es mir jetzt gemütlich machte, roch muffig, trotzdem kam er mir nach der Schufterei in der Küche himmlisch vor.

Je länger ich hier in der zugigen Kammer unter dem Dach wartete, umso einsamer wurde ich. Die Turmuhr schlug mit schöner Regelmäßigkeit, doch Jorg kam nicht. Und noch etwas wurde mir klar: Heute würde ich tatsächlich zum ersten Mal Mittwinter ohne Mutter verbringen. Etwas sehr Wichtiges musste ihr dazwischen gekommen sein, wie eine Rotte Orks oder ein paar Trolle, dachte ich, die sie mit Leichtigkeit besiegen konnte. Denn sie hatte mir ihr Wort gegeben, dass sie rechtzeitig zurück sein würde und ein Versprechen zu brechen war unehrenhaft, eine Sünde gegen die große Göttin Scathach. Undenkbar für Mutter und die anderen tapferen Cérnkrieger.

Ohne mein Zutun perlten Tränen über meine Wangen, die ich sofort wegwischte. Nicht auszudenken, wenn mich jemand heulen sehen würde wie einen Säugling! Außerdem wollte ich auf keinen Fall, dass Jorgs Vater Verdacht schöpfte. Bei dem Gedanken an die schnellen Hände des Bäckers schreckte ich hoch und überprüfte, ob das Brett hinter mir auch lose war. Ja, nur ein Druck und es schwang auf und gab den Weg über die Dächer frei. Über die er mir sicher nicht folgen würde. Sofort drang eiskalte Luft herein und ein paar verirrte Schneeflocken. Hastig schob ich das Brett zurück.

Natürlich war es kalt draußen: Der kürzeste Tag und die längste Nacht galt es zu feiern, die Aussicht, dass bald wieder längere Tage und mehr Sonnenschein auf uns warteten. Ich schnaubte. Viel Sonne würde ich in der Küche nicht sehen, solange Lady McLoyd sich nicht erweichen ließ. Mein Rücken schmerzte vom Tragen unzähliger Wannen. Ich streckte der Kerze stellvertretend für Lord Kimp die Zunge heraus. Mann, der hatte vielleicht eine harte Rechte. Ich strich über meine Wange und spürte die Schwellung. Wie viele Töpfe hatte ich geschrubbt? Wie viele Fische hatte ich den ganzen Tag über ausgenommen? Keine Ahnung. Ich schnüffelte an meinen Händen und war sicher, dass sie trotz mehrfachen Waschens immer noch nach Fischinnereien rochen.

Missmutig suchte ich in meinem kleinen Bündel, das ich hier versteckt hatte, nach irgendetwas, was ich noch überziehen konnte. Vergeblich. Nur den dünnen Sommerunhang legte ich um.

Es war so verflucht kalt hier oben, so kalt wie eine Leiche! Wahrscheinlich hätte mich Mutter jetzt ermahnt, dass ich nicht so fluchen sollte. Mutter. Bei dem Gedanken an die beste Schwertkämpferin in ganz Tiranorg wurde mir die Kehle eng. Mann, wie lange war sie jetzt schon weg? Pff, mit Zeitangaben hatte ich es nicht so.

Plötzlich schreckte ich hoch. Lichtstrahlen drangen durch die schlecht verlegten Bretter zu mir herauf.

„Du machst mir nichts als Ärger, Junge“, dröhnte die tiefe Stimme des Bäckers zu mir hoch.

Oh nein! Wieder einmal würde Jorg für die ständige schlechte Laune des Bäckers büßen müssen. Wut stieg in mir hoch. Eine Wut, von der ich nicht wusste, ob sie einem  neunjährigen Mädchen zustand. Egal.

„Ich weiß nicht, warum die Wache hinter mir her war, Vater. Wirklich nicht“, Jorg klang nicht überzeugend. Für mich jedenfalls. Zur Sicherheit zog ich den Scheibendolch, den ich am Fuß trug. Mutter hatte ihn mir gegeben, als sie weggeritten war.

„Hast du das Gold? Du solltest doch die Torten zum Bankett auf die Burg bringen!“

Ich betete zu Scathach, dass Jorg das Geld nicht verloren hatte.

„Ja, natürlich. Sieh her!“

Münzen klimperten. Ich atmete auf.

Ein wenig zu stark, denn der Luftzug brachte die dünne Kerze, die nur in einer kleinen Halterung steckte, gefährlich ins Wanken.

Ich schrie auf und hielt sie fest. Nicht auszudenken, wenn das alte Stroh und die Bretter Feuer fingen!

„Wer ist da oben? Gesindel, zeig dich!“

„Lauf! Esmanté, lauf!“, schrie Jorg und gleich darauf: „Aua!“

Ich würde mir den Bäcker vorknöpfen, schwor ich mir, doch erst einmal war es sicherer, die Beine in die Hand zu nehmen. Jorgs Vater nannte einen veritablen Knüppel sein eigen, den ich wirklich nicht spüren wollte.

Also schlüpfte ich durch das Brett, balancierte am First entlang und ignorierte das wütende Brüllen des Bäckers, der jetzt seinen fetten Kopf durch die Lücke gesteckt hatte. Hoffentlich brachte sich Jorg ebenfalls in Sicherheit.

Zwei Dächer weiter hielt ich neben einem Kamin an. Er spendete Wärme, was ich dringend brauchen konnte, denn es begann erneut zu schneien. Ich kauerte mich in den Windschatten des Kamins, zog den Umhang enger um mich und wartete. Keine Ahnung, wie lange ich dort saß, doch Jorg kam nicht.

Zahlreiche Elfen bevölkerten die engen Gassen unter mir. Mittwinter war stets ein guter Grund ausgiebig zu feiern. Wie hatte Freyda letztes Jahr gesagt? Es floss so viel Bier, wie der Perlende Fluss Wasser führte.

Mein Herz wurde eng bei dem Gedanken an Mutters beste Freundin, die ebenfalls mitgeritten war. Wo sollte ich hin? Ich zog als erstes den Umhang enger um mich und die Kapuze tiefer ins Gesicht. Doch der dünne Stoff bot nicht viel Schutz. Der köstliche Geruch nach gebratenem Fleisch und frischem Brot wehte zu mir herauf und ließ meinen Magen knurren. Ich hatte nur ein kleines Stück Schinken gegessen, weil ich auf Jorg hatte warten wollen. Meine Zehen protestierten, meine Beine waren eiskalt. Es half nichts, ich sollte eine Entscheidung treffen. Jorg war sicher von seinem Vater wieder eingesperrt worden, ich musste selbst sehen, wo ich blieb.

Wenn nur Mutter hier wäre. Aber wie sagte sie immer: „Wir d`Elestre Frauen sind stark, wir brauchen keine Hilfe von anderen.“

Nun, dann würde ich den Markt aufsuchen. Er hatte während der Feiertage zu Mittwinter lange geöffnet, mit etwas Glück fiel dort auch etwas für mich ab.

Vorsichtig kletterte ich bei nächster Gelegenheit vom Dach herunter und mischte mich unter die feierlustige Menge. Meistens hatten die Nonnen der Göttin der mildtätigen Hilfe einen Stand auf dem Markt, an dem sich mittellose Elfen eine Mahlzeit abholen konnten. Das war mein Ziel.

Also duckte ich mich, als von oben ein Kübel mit stinkendem Inhalt auf die Gasse geleert wurde, wich mehreren Betrunkenen aus und drückte mich an die Wand, als ein Trupp Wachen von der Wachablösung vorbei kam. Schon sah ich den Stand. Tatsächlich war er noch geöffnet und eine ältere Elfe rührte in einem großen Topf, der an einem Dreizack hing. Eintopf mit Schweinefleisch und dicken weißen Bohnen, wenn mich meine Nase nicht trog. Mein Magen gab seine Zustimmung und ich lief los. Ein vornehm gekleidetes Paar sah mitleidig auf mich herunter, doch ich reagierte nicht. Noch schnell am Metzger vorbei, der frisch geräuchertes Lammfleisch anbot.

„Jeder Bedürftige ist willkommen“, hörte ich die etwas zu hohe Stimme der Elfe.

Da packten mich kräftige Hände, verschlossen mir den Mund, rissen meine Arme nach hinten und schubsten mich aus dem Licht des erhellten Platzes.

„Halt! Wohin wollt ihr mit dem Kind?“, hörte ich eine besorgte Stimme. Hoffnung stieg in mir auf. Vielleicht war es jene Frau, die mich vorher mitleidig betrachtet hatte.

„Ist `ne kleine Ausreißerin“, hörte ich eine schmierige Stimme. „Der Vogt hat ihre Verhaftung befohlen.“

„Nein, stimmt nicht“, quetschte ich durch die Hände hervor, die meinen Mund umschlossen. Doch meine Entführer schleiften mich weiter und die besorgte Stimme ging im Chor der Hintergrundgeräusche unter.

Alles, was ich sah, waren Pflastersteine, Dreck und Stiefel, die in allen Formen und Größen an mir vorbeizogen. Die Entführer hatten mich in die Mitte genommen, einer umschloss meinen Nacken und zwang mich, nach unten zu sehen.

„Verzeihung, Euer Lordschaft. Müssen sich nicht beunruhigen, die Kleine hat einiges am Kerbholz. Der Vogt will sie heute noch sehen, wenn Ihr versteht.“

Ah, konnte das wahr sein? Wollte mich wirklich der Vogt von Grianan Aileach selbst haben? Aber ich hatte nichts angestellt, also nichts, was den Vogt interessieren würde.

Sie schleiften mich weiter. Ich hörte sie losprusten und wusste, dass der Vogt mein geringstes Problem war. Wenn ich nur an den Dolch käme, der an meinem Fuß befestigt war! Zwar würde ich es wohl nicht schaffen, ihn einem der beiden ins Herz zu rammen, wie Mira es mir an den Strohpuppen auf dem Trainingsgeviert gezeigt hatte. Aber eine Stichwunde am Arm oder Bein würde ausreichen, um mich loszureißen und wegzulaufen. Deshalb trat ich aus, traf einen am Schienbein, doch die klobigen Fellstiefel verhinderten, dass es ihm weh tat.

„Du kleine verlauste Wanze“, knurrte der Stiefelinhaber und packte mich fester.

Ich mochte mich wehren, wie ich wollte, sie hielten mich gepackt. Schon wurde es ruhiger. Es musste das Schmugglerviertel sein. Die Ruhe dröhnte direkt in den Ohren nach der lauten Umgebung von vorhin.

„So, aufgepasst, Kleine. Sind bald da. Und dann kassieren wir die Kohle und feiern wie die Hohen Herrschaften“, die Kerle wieherten wie eine Herde Ziegen und schleiften mich weiter. Ein Tor wurde geöffnet und ich holte noch einmal alles aus mir heraus. War ich erst in irgendeiner Kaschemme, würde die Flucht entweder schwierig oder gar unmöglich werden. Allmählich bekam ich richtig Angst. So abgelegen wie das Haus war, würde mich hier keiner hören. Nur zu gut wusste ich, dass einige der hohen Herrschaften Gefallen an Kinder fanden – in jeglicher Hinsicht. Sollte so Mittwinter für mich enden?

Scheppernd fiel das Tor zu. Die wenigen Geräusche erstarben. Jetzt hörte ich sogar den Wind durch kahle Äste pfeifen. Wo brachten mich die Typen nur hin? Mein Herz raste. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich befreien konnte. Doch die Ekeltypen zerrten mich einfach weiter, als wäre ich ein großer Sack Mehl. Noch einmal stieß ich mit dem Fuß zu, doch zu meiner großen Enttäuschung traf ich nicht.

Das Pflaster wurde abgelöst von weichem Untergrund, teilweise verschneit, was die Schritte dämpfte. Mist! Ich hatte wirklich verdammten Mist gebaut. Hatte mich einfach fangen lassen – wie unfassbar blöd war ich eigentlich? Der Geruch nach Seife drang in meine Nase. Wo bei allen Göttern war ich hier eigentlich? Immer noch drückte mich der Entführer mit dem Kopf nach unten. Meine Schultern schmerzten und ich hätte vor Wut heulen können.

Plötzlich öffnete sich eine Tür. Wärme überflutete mich und der Geruch nach Lavendel und Rosen.

„Wie befohlen, Mylady“, kroch der Schleimbolzen vor der Auftraggeberin. Leider drückten mich die Kerle immer noch unten, also sah ich nicht, wer ein Mädchen von der Straße entführen ließ.

„Da rein!“, befahl eine Stimme.

Ich wurde hochgehoben und landete – in einer Wanne mit warmem Wasser!

Prustend kam ich hoch, rutschte mit den Händen aus, tauchte erneut unter, wischte über die Augen und sah – in die lachenden Gesichter von Mutter, Freyda und Mira!

„Du hast ein Bad dringend nötig, mein Spatz!“, lachend hob sie mich heraus, egal, welche Sauerei sie gerade anstellte und umarmte mich. Auch Freyda tätschelte mir den Rücken und dann drehten sie mich um.

Vor mir standen Londo und Brahma und bogen sich vor Lachen.

„Hat ausgetreten wie `n wilder Keiler“, beschwerte sich Brahma und tat, als müsste er über sein Schienbein streichen.

„Sie kam vom Dach herunter und war auf dem Weg zu den mildtätigen Schwestern“, schmunzelte Londo. „Wie du gesagt hast, Freyda. War meine Stimme nicht einmalig, Esmanté?“

Jetzt trat Mutter vor, stemmte die Arme in die Seiten und sah mit gerunzelter Stirn auf mich herunter: „Hab ich dir nicht gesagt: Pass auf, ob dir einer folgt?“, sie schnippte gegen meine Stirn.

„Wir waren aber auch wirklich vorsichtig“, nahm mich Londo in Schutz.

„Aber ausgerechnet die mildtätigen Schwestern, bei Scathachs Titten. Da wärst du sofort weggewesen. Die machen das doch nur, um die Kinder von der Straße zu fangen“, mischte sich nun Mira ein. „Ich dachte, wir hätten dir genug beigebracht, dass du ein paar Tage auf dich selbst aufpassen kannst!“

„Seid mir nicht böse“, ich sprang auf Mutter zu und sie fing mich mit Leichtigkeit auf.

„Nein, wie könnte ich. Hast du mich vermisst, mein Spatz?“

„Hm, nö, eigentlich nicht“, grinste ich und wurde zur Strafe sofort wieder ins Bad getaucht.

Wie sich herausstellte, hatten Mutter und ihre Freunde zur Feier ihrer Rückkehr das gesamte Stockwerk des Badhauses angemietet.

Für mich stand eine eigene Wanne bereit. Eine Dienerin nahm naserümpfend meine verdreckten Klamotten und hielt sie weit von sich, als sie hinausging.

Auch Mutter, Freyda und Mira orderten frisches Wasser, lagen dann in den Wannen und erzählten von Ritt in den Süden. Die Männer hatten ihren eigenen Raum, in dem es, den Geräuschen nach zu urteilen, hoch herging.

Mittlerweile wurde im Nebenraum Essen aufgetragen. Als alles gerichtet war, übergab mir die gleiche Dienerin frische Kleidung und wir gingen zusammen hinüber. Mehrere Tische bogen sich unter der Last des Essens und der Getränke. Dazwischen behaupteten sich Teller, Becher und viele Kerzen. Mit einem Wort: Es sah himmlisch aus.

Ich saß zwischen Mutter und Mira und ließ es mir schmecken, bis mir beinahe schlecht wurde. Die Krieger sprachen außerdem dem Bier reichlich zu. Zwei Musiker spielten auf. Die ersten Cérn begannen zu tanzen, meist mit mehr Begeisterung als Talent, doch das tat dem Spaß keinen Abbruch. Ich verdrückte mich auf die hinterste Bank, hielt eine Wurst in der einen und ein dickes Stück Brot in der anderen Hand und beobachtete das Schauspiel. Auch wenn ich noch nie einen Fuß in dieses Badhaus gesetzt hatte, fühlte ich mich hier zuhause. Beschützt und geborgen. Lauschte den Prahlereien und echten Erzählungen von Mutter und den anderen, stibitzte ein mit Sahne gefülltes Törtchen von Freydas Teller, während sie innig mit Londo tanzte, und trank sogar einen Schluck Bier aus Mutters Humpen.

Eigentlich war Mutter dem Bier oder auch dem Bergnebel, der eben die Runde machte, nicht abgeneigt. Doch plötzlich kam sie zu mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich eingenickt war. Sie hob mich hoch, ich kuschelte mich an sie und so trug sie mich in das angrenzende Schlafzimmer. Es gab mehrere einfache Betten, die Strohmatratzen war frisch gefüllt und rochen sauber.

Meine Mutter setzte mich auf der Matratze ab, schob mich in die Mitte und legte sich, sehr zu meiner Überraschung, zu mir. Sie hatte das Bett direkt am Fenster ausgesucht. Es war eine klare Nacht, der Mond war noch nicht aufgegangen und sie deutete auf den hellsten Stern, den einige kleinere umgaben.

„Sieh genau hin, Esmanté. Das ist die Schwertspitze des Tapferen Kriegers. Scathach selbst hat ihn an diesen Ort gestellt, denn er bewacht den Eingang zu ihrem Reich. Selbst wenn ich eines hoffentlich noch fernen Tages zu Scathach gehen werde, komme ich trotzdem, so oft ich kann, dorthin und schaue auf Tiranorg herunter, nur um sicher zu sein, dass es dir gut geht.“

Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte einen Kuss auf meine Wangen. Meine Tränen wischte sie einfach mit ihrem Daumen weg und flüsterte: „Du bist nicht allein, Esmanté d´Elestre.“

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